Ostdeutschland stirbt aus, schreiben die Medien 2015. Fünf Jahre später heißt es, der Osten wird beliebter und stirbt später. Gestorben wird also immer noch, aber langsamer. Für Sachsen bedeutet das: Lebten 1950 noch fast 5,7 Millionen Einwohner im Freistaat, zählt die Statistik Ende 2019 nur noch knapp über vier Millionen Menschen. Damit hat Sachsen über ein Viertel der Bevölkerung verloren. Allein zwischen 1991 und 2019 verringerte sich die Anzahl der im Freistaat lebenden Menschen um rund 620.000 Personen. Seit 2011 jedoch scheint sich der Schrumpfungsprozess in der Tat etwas zu verlangsamen. Doch inwiefern und wo schrumpft Sachsen eigentlich?
Um zu erfahren, in welcher Dimension der sächsische Bevölkerungsrückgang genau abläuft, erzeugen wir zu Beginn ein gewöhnliches Balkendiagramm und bilden hier die jährliche Bevölkerungszunahme bzw. Bevölkerungsabnahme gegenüber dem Vorjahr ab. Jeder Balken stellt demnach ein Jahr dar. Die linke Skala zeigt die jährliche Entwicklung in 20.000er Schritten. Befindet sich ein Balken also unterhalb der Nulllinie, so verlor der Freistaat in diesem Jahr die jeweilige Anzahl an Einwohnern. Befindet er sich darüber, ist Sachsen gewachsen.
Wie in der Abbildung deutlich wird, verliert Sachsen seit 1983 jedes Jahr Einwohner. Darüber hinaus scheint die die Entwicklung wellenförmig abzulaufen. In der Zeit des Beitritts der DDR in die BRD ist ein großer jährlicher Bevölkerungsverlust zu beobachten. Bis zum Jahr 1995 verliert dieser kontinuierlich an Geschwindigkeit. Anschließend zieht der Schrumpfungsprozess erneut an, um rund um die Jahrtausendwende ein neues Tief zu bilden: Allein im Jahr 2001 schrumpfte Sachsen um über 41.000 Menschen. Auffällig ist auch der Wert in 2011: Dieser ist jedoch nicht etwa auf eine hohe Abwanderung oder Sterbezahl zurückzuführen, sondern auf einen statistischen Effekt: 2011 fand die EU-weite Bevölkerungszählung statt. Ein Ergebnis: In Deutschland lebten weniger Einwohner als bisher angenommen und auch in Sachsen fällt die „Korrektur der Einwohnerzahl […] vergleichsweise hoch aus“1 https://www.statistikportal.de/sites/default/files/2017-07/2015_01_Zensus_Kompakt_endgueltig.pdf. Konkret wurden die Zahlen um 82.869 Menschen nach unten korrigiert. Seit 2001 schließlich ist die Bevölkerung Sachsens immer langsamer geschrumpft und konnte – unterstützt durch die verstärkte Zuwanderung – in den Jahren 2014 und 2015 sogar erstmals seit Jahrzehnten geringfügig ansteigen. In fast vier Jahrzehnten wuchs die Bevölkerung in Sachsen also lediglich in zwei Jahren: 2014 und 2015.
Anzahl schrumpfender Gemeinden im Zeitverlauf
Durch die vorangegangene Abbildung wissen wir zwar, dass der Freistaat insgesamt von Jahr zu Jahr schrumpft. Aber wir wissen noch nicht, auf wie viele Gemeinden sich dieser Prozess eigentlich verteilt. Um das zu prüfen, zählen wir einfach, wie viele Gemeinden pro Jahr schrumpften bzw. wuchsen und stellen dies wieder in Balkendiagrammen dar. 2Durch Gebietsstandsanpassungen (z.B. Gemeindefusionen) variiert die Gemeindeanzahl im Zeitverlauf. Für folgende Berechnungen wurden die Gebietsstände der Vergangenheit auf den Gebietsstand aus dem Jahr 2019 umgerechnet.
Ergebnis: Seit 1983 gab es lediglich ein kurzes Zeitfenster, in welchem mehr Gemeinden wuchsen als schrumpften: 1994-1997. In allen anderen Jahren gab es (deutlich) mehr schrumpfende als wachsende Gemeinden. Hierbei führt das Jahr 1990 die Rangliste an: Rund 96 Prozent aller Gemeinden verzeichneten hier eine gegenüber dem Vorjahr kleinere Bevölkerung (404 von 419 Gemeinden). 1994 lag die Anzahl der wachsenden Gemeinden erstmals wieder oberhalb der schrumpfenden Orte. Hielt dies bis zum Jahr 1997 an, dominiert seitdem und bis heute die Schrumpfung. Die Jahre ab 2005 erreichten sogar beinahe wieder das Niveau aus dem Rekordjahr 1990. Und selbst in den letzten Jahren, in welchen die Anzahl wachsender Gemeinden wieder etwas angestiegen ist, kamen auf jede wachsende Gemeinde rund 2 bis 3,5 schrumpfende.
Im Schnitt wachsen seit 20 Jahren nur noch Sachsens Großstädte
Der oben dargestellte Bevölkerungstrend ist interessant, doch er zeigt das Bild nur für gesamt Sachsen. Aber wo fand das Schrumpfen eigentlich genau statt? Weit abgelegene und sehr kleine Städte gelten häufig als weniger attraktiv und dürften es dadurch insgesamt schwerer haben, demografisch einigermaßen stabil zu bleiben. Denkbar ist allerdings auch das Gegenteil: Das oftmals romantisierte Landleben, die Natur und günstigere Mieten sind Gründe, warum auch viele Städter gerne mal die urbanen Räume verlassen.3https://civey.com/pro/unsere-arbeit/trend/gesellschaft/stadt-vs-land-wo-wollen-die-deutschen-leben?utm_campaign=stadt_land&utm_medium=xing_post&utm_source=civey_pro_user
Um eine Antwort darauf zu finden, habe ich mir die Raumkategorien des BBSR4Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung besorgt und in meinen Datensatz integriert. Nun kann ich prüfen, inwiefern sich die Gemeinden Sachsens in Abhängigkeit zur geografischen Lage5Gemessen wird hier, wie lange die Menschen mit einem motorisierten Fahrzeug benötigen, um Räume „mit einem großen Angebot an Beschäftigungsmöglichkeiten und Versorgungseinrichtungen“ zu erreichen. Weitere Informationen: Klick! und zum Gemeindetyp6„Kriterien sind die Größe der Gemeinde (Bevölkerungszahl) und ihre zentralörtliche Funktion.“ Weitere Informationen: Klick! entwickelt haben.7So kommt es, dass wir oben zwar 122 wachsende Gemeinden für das Jahr 2019 festgestellt haben. Bilden wir jedoch die Durchschnitte, so zeigt sich, dass nur die Großstädte wuchsen. Die Frage lautet also nicht mehr, wie viele Gemeinden wuchsen oder schrumpften, sondern, wie sich beispielsweise die Landgemeinden im Durchschnitt entwickelt haben.
Ergebnisse: In der nachfolgenden Abbildung lässt sich leicht erkennen, dass in Landgemeinden, kleinen und großen Kleinstädten sowie Mittelstädten seit den 1980er Jahren Schrumpfungsprozesse deutlich dominieren. Lediglich zwischen 1994 und 1998 fällt eine kurze Wachstumsphase auf. Auch 2014 und 2015 konnten (sehr) zentral gelegene Gemeinden etwas zulegen. Die Zeit der Großstädte kam mit der Jahrtausendwende. Wurde bis zum Jahr 2002 auch bei diesem Gemeindetyp insgesamt Schrumpfungstendenzen beobachtet, wird dieser seitdem durch ein vergleichsweise hohes Bevölkerungswachstum ausgezeichnet.
Im rechten Auswahlmenü lassen sich einzelne Gemeindetypen auswählen und dadurch optisch hervorheben. Durch die Auswahl „nur beibehalten“ lässt sich die jeweilige Auswahl heranzoomen. Dadurch werden die Balken vergrößert dargestellt. Hierbei wird außerdem ersichtlich, dass jeder Balken auch innerhalb des jeweiligen Gemeindetyps (Ausnahme: Großstädte) zusätzlich nach der geografischen Lage getrennt dargestellt wird. Soll die Ausgangsabbildung wiederhergestellt werden, genügt ein Klick auf den Pfeil innerhalb der grauen Leiste am unteren Abbildungsrand.
Der Bevölkerungsrückgang der einzelnen Gemeinden
Der Nachteil aggregierter Datenanalysen wie oben ist, dass der Blick auf die einzelne Gemeinde versperrt wird. Das hilft zwar, um übergeordnete Trends zu erkennen, verdeckt allerdings häufig die gar nicht so uninteressanten Details. Beispiel: Eben habe ich geschrieben, dass seit der Jahrtausendwende nur noch die Großstädte wachsen. Das ist als Durchschnitt für diese Kategorie korrekt. Aber genau genommen gilt das lediglich für Leipzig und Dresden. Die Bevölkerung in Chemnitz begann erst ab circa 2010 zuzulegen und lag bereits 2016 und 2019 wieder im negativen Bereich. Zu erkennen ist dies in der folgenden Abbildung, welche die jährliche Entwicklung pro 1.000 Einwohner darstellt.8Gegenüber einer Betrachtung der tatsächlichen absoluten Bevölkerungsentwicklung hat dies den Vorteil, dass große Gemeinden nicht allein aufgrund ihrer Größe eine höhere Wahrscheinlichkeit auf eine höhere Positionierung innerhalb der Abbildung haben (die dargestellten Entwicklungen werden dadurch interkommunal vergleichbarer). In den meisten Abbildungen wurde außerdem wieder die regionale Lage farblich hervorgehoben sowie ein jährlicher Durchschnitt (rote Linie) eingeblendet.
Ähnliche interessante Punkte lassen sich auch in den anderen Gemeindetypen finden. Für diese habe ich die Abbildungen ebenfalls erstellt. An dieser Stelle möchte ich jedoch (auch zugunsten der Übersichtlichkeit) nicht jede Abbildung einzeln einbetten. Stattdessen gilt – wer mag, klickt (Großstädte, Mittelstädte, größere Kleinstädte, kleine Kleinstädte, Landgemeinden).
Noch deutlicher ist diese Entwicklung mit einer kartografischen Perspektive zu erkennen. Beide nachfolgenden Karten enthalten die Entwicklung der kommunalen Bevölkerungsgrößen je 1.000 Personen. Die obere für die Jahre 1983-1988 und die untere für 1990-2019. Je tiefer der Blauton einer Gemeinde, desto positiver hat sie sich in jenem Zeitraum entwickelt. Ein Rotton steht für Schrumpfung.
Betrachten wir die Jahre 1983-1988 – also die Zeit vor der Wende – lassen sich noch relativ viele blau gefärbte Gemeinden finden. Diese erscheinen recht diffus zerstreut: Weder befinden sie sich in der Nähe der Großstädte, noch konzentriert in einer Region. Insgesamt jedoch dominiert in diesem Zeitraum – wie oben bereits dargestellt – die Rotfärbung. Auch die Großstädte Dresden, Leipzig und Chemnitz befanden sich in Schrumpfungsprozessen. Die tiefsten Rottöne befinden sich relativ grenznah.
Was ist nun seit der Wende (1990-2019) passiert? Eines fällt sofort auf: Viele Gemeinden, die vor der Wende wuchsen, befinden sich seitdem in einer Schrumpfung (z.B. Johanngeorgenstadt, Weißwasser). Die einst eher diffus verteilt erscheinenden Blautöne konzentrieren sich nun rund um die beiden Großstädte Dresden und Leipzig - die sogenannten Speckgürtel, also das dicht besiedelte Umland. Chemnitz als dritte sächsische Großstadt befindet sich ebenfalls inmitten einer langfristigen Schrumpfung mit vereinzelten Wachstumsjahren. Dessen Umland übt offensichtlich deutlich weniger Anziehungskräfte auf die Menschen aus als Leipzig und Dresden.
Fazit
Naja, dass auch der Freistaat Sachsen demografisch nicht besonders gut aufgestellt ist, dürfte eigentlich allen klar sein. Gerade medial wird ja seit Jahrzehnten immer wieder davon berichtet. Politiker und gesellschaftspolitische Akteure aller Art äußern sich mal besorgt, mal optimistisch. Aber beinahe alle eint der Wille, dem langfristigen Schrumpfungsprozess etwas entgegensetzen zu müssen. Möglicherweise wird der ein oder andere Leser den Optimismus des Artikels betonen: Schließlich scheint die Bevölkerungsschrumpfung in den vergangenen Jahren ausgebremst worden zu sein. Und Ja, teilweise war sogar ein Wachstum feststellbar! Ich jedoch kann den Optimismus, welcher auf eine wachsende Bevölkerung abzielt, nicht teilen. Denn:
- Ein sächsisches Bevölkerungswachstum gab es zwischen 1983 und 2019 in nur zwei Jahren.
- Das Bevölkerungswachstum war lediglich auf die beiden starken Zuwanderungsjahre 2014 und 2015 begrenzt.
- Außerdem konzentrierte es sich primär auf die beiden Großstädte Leipzig und Dresden sowie deren Umland.
- Abgesehen vom Zeitraum 1994-1997 gibt es seit 1983 jedes Jahr deutlich mehr schrumpfende als wachsende Gemeinden.
- Letztlich ist die tendenzielle Bevölkerungsschrumpfung ein weltweites Phänomen und Sachsen reiht sich in diesen Trend frühzeitig mit ein.
Natürlich wird diese Entwicklung zumeist problematisiert, wirft sie doch ernste strukturelle Fragen und Herausforderungen auf. Wie kann beispielsweise der Finanzhaushalt stabil bleiben, wenn gleichzeitig die Menschen und mit ihnen möglicherweise die Unternehmen verschwinden? Was passiert mit dem lokalen Immobilienmarkt, wenn die Menschen gehen und ihre Häuser zurückbleiben? Wie kann die gewohnte Infrastruktur auch in Zukunft garantiert werden, wenn niemand mehr da ist, der sie aufrecht erhält? Wie in meinem ersten Blogbeitrag jedoch beschrieben, könnte Sachsens Entwicklung als Vorreiter einer an sich global zunehmend beobachtbaren Entwicklung verstanden werden. In immer mehr Regionen verlangsamt sich das Wachstum der Bevölkerungen oder ist sogar schon ein Bevölkerungsrückgang zu beobachten. In wenigen Jahrzehnten dürfte sogar die Weltbevölkerung insgesamt schrumpfen. Es wird wohl eine der größten Zukunftsfragen sein, wie unsere auf Wachstum basierenden Gesellschaftsmodelle funktionieren, wenn mit der Bevölkerungsgröße ein wichtiger Faktor sich derart schnell verändert. Sachsen als eine demografisch hochinteressante Region könnte hier ein Experimentierfeld für soziodemografische Zukunftsfragen werden.
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Quellen und Fußnoten: